Samstag, 13. Dezember 2014

Kräuterfrauen_4.Teil



Zeit des Erinnerns – Holunderzeit
Das Bild der Frau als minderwertiges Anhängsel des Mannes hielt sich bis ins letzte Jahrhundert. Lange Zeit durfte keine Frau studieren, einen Handwerksbetrieb leiten oder gar wählen. Ihr war die Rolle der Hausfrau und Mutter zugeschrieben. Der Mann hatte das Sagen, in der Familie wie in Staat und Kirche.
Erst mit den beiden Weltkriegen, als viele Männer gefallen oder in Gefangenschaft waren, war die Arbeit der Frau nötig, um das zerstörte Europa wieder aufzubauen. Doch dauerte es noch bis in die wilden 60´ger des letzten Jahrhunderts, bis Frauen den Weg zurück in Kirche, Politik und Medizin fanden.
Waren zu Zeiten der beiden Kriege oft Heilkräuter die einzige zur Verfügung stehende Medizin, so standen der ersten Nachkriegsgeneration – der Generation meiner Eltern – mehr chemisch hergestellte Medikamente und Pflanzen“schutz“mittel zur Verfügung als je zuvor. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir als Kinder mit Heiltees oder Kräuteranwendungen in Berührung kamen.  Chemische Hustensäfte oder die Einnahme von Antibiotika bei fiebrigen Erkältungen waren selbstverständlich. Lediglich zwei Zubereitungen, die meine Oma noch herstellte, sind mir in Erinnerung geblieben: Das eine war eine Tinktur aus Rosskastanien, mit denen die Frauen der Familie die Beine einrieben, wenn diese nach einem langen Arbeitstag auf dem Feld schmerzten. Und für einen entfernten Verwandten, der in der Stadt eine Arztpraxis betrieb, stellte die Oma eine Art Gelee aus Quittenkernen, die dann auf schlecht heilende Wunden aufgebracht wurde. Moderne Hydrokolloid-Pflaster haben eine vergleichbare Wirkweise, sie halten die Wunden feucht und schützen vor Verkeimung, so dass die Wunde nach und nach von den Wundrändern her zuwachsen kann.
 Die Generation meiner Eltern hatte sich ganz dem modernen Fortschritt ergeben und glaubte gern den Versprechungen der Industrie: Mehr Wachstum, mehr landwirtschaftlicher Ertrag, bessere Heilung durch bessere, reinere Medizin. Die Chemiekonzerne erlebten einen Boom. Dabei beruhen viele der chemisch hergestellten Medikamente auf pflanzlichen Wirkstoffen, die im Labor nachgebaut wurden, jedoch in isolierter Form und nicht im Zusammenhang mit den weiteren Wirkstoffen einer Pflanze. Die chemische Medizin konnte wahre Wunder bewirken und wurde bedenkenlos eingesetzt. Zugegeben, in den Jahrhunderten zuvor erlagen weitaus mehr Menschen Krankheiten, die mit der modernen Medizin einfach zu heilen waren. Doch stiegen mit dem unbekümmerten Einnehmen vieler chemischer Medikamente die Zahl behandlungswürdiger Nebenwirkungen. Je mehr Leistung die Landwirtschaft, die Industrie und auch die Medizin möglich machte, desto größer die Belastungen der Menschen. Pflanzenheilkunde, das Kommunizieren mit Pflanzen sowie das Wirken der wenigen verbliebenen heilkundigen Kräuterfrauen wurde bestenfalls herablassend belächelt.
„Der Fortschritt von Wachstum ist Krebs“
Parallel zu den Errungenschaften der chemischen Industrie entwickelte sich ab den 60ger Jahren eine Subkultur, die sich mich natürlicher Lebensweise und ökologischem Landbau auseinandersetzte. Man wollte sich dem Diktat der Industrie nicht länger hingeben und wieder selbst bestimmen, welchen Substanzen man seinen Körper und die Natur aussetzte. In dieser Bewegung kamen nun auch vermehrt Frauen zu Wort und machten sich auf den Weg zur eigenen Identität.  Die aus heutiger Sicht manchmal überschäumende  Lebensweise der Frauenrechtlerinnen und Blumenkinder, der Hippies wie auch der Anarchisten und Nonkonformisten war vielleicht erforderlich, um hier einen Paradigmenwechsel in Gang zu setzten. Zu lange hatte man sich dem Diktat der Kirche, der Industrie und des Staates ergeben, nun erwachte der Selbstbestimmungswille der Menschen.   Man machte sich auf die Suche nach dem Sinn des Lebens, weg von „höher, schneller, weiter“. Die Ideologien fremder Kulturen – Indiens oder der Ureinwohner Amerikas zum Beispiel – nahm man als Ersatz der eigenen verloren gegangenen Wurzeln an.
Zwei Kräuterfrauen gelangten als erste in den Fokus der Medien: Eva Aschenbrenner und Maria Treben. Beide hatten sich das Wissen um die Heilkraft der Pflanzen erhalten, in ihren Büchern beschrieben sie überlieferte Pflanzenanwendungen gegen allerlei Krankheiten. Eigene Erfahrungen und ein überliefertes Wissen standen ihnen und mit ihren Veröffentlichungen der Allgemeinheit wieder zur Verfügung. Doch wurden auch sie zunächst nicht ernst genommen. Pflanzenheilkunde war wie die Hinwendung zu spiritueller Lebensweise etwas für Außenseiter, für Freeks und Spinner.
Eine Generation lang war man dem Glauben an die Industrie nahezu kritiklos verfallen. Doch dann zeigten sich allmählich die ersten Auswirkungen in der Belastung von Gewässern mit chemischem Dünger, in der Geburt körperbehinderter Kinder durch die Einnahme eines als ungefährlich deklarierten Medikaments, im Nachweis von Wachstumshormonen im Fleisch und den Auswirkungen auf den Menschen und in vielem anderem. Der ökologische Landbau, die natürliche Form der Bewirtschaftung von Äckern und Feldern kam in Mode, die Nachfrage nach unveränderten und unbelasteten Nahrungsmitteln stieg. Auch der Ruf nach natürlichen Behandlungsmethoden wurde laut. Traditionelle Chinesische Medizin mit der Anwendung von Heilpflanzen kam in Mode und einige Ärzte nahmen diese Behandlungsmethoden mit in ihr Repertoire auf. Die einheimischen Kräuter, die alten Heilanwendungen dagegen kannten und nutzten nur noch wenige.
Seit einigen Jahren suchen die Menschen auch wieder nach den Heilpflanzen der eigenen Kultur, nach dem verlorenen Wissen der Kräuterfrauen. Einiges ist in ländlichen Gebieten, insbesondere in den Alpenregionen erhalten geblieben und findet den Weg zurück ins Bewusstsein der Menschen. Über den Weg der rationalen Phytotherapie erlangt die Pflanzenheilkunde an neuem Ansehen. Die Schulmedizin verlässt sich dabei noch immer auf messbare, untersuchte Wirkstoffe in den Pflanzen und benutzt spezielle Züchtungen, in denen die Wirkstoffe in konzentrierter Form vorliegen und Inhaltsstoffe, die Nebenwirkungen hervorrufen könnten, herausgezüchtet sind.
Wieder sind es überwiegend Frauen, die die Kurse der neuen Heilpflanzen-Schulen belegen um sich das überlieferte Wissen wieder anzueignen. Die Moderne Kräuterfrau lernt nicht mehr nur in der Hecke und von der Vorgängergeneration. Moderne Kräuterfrauen profitieren vom Engagement einiger Pionierinnen, die sich dem Wissen um die Heilkraft unserer Pflanzenwelt verschrieben haben und mit viel Mut und gegen alle Widerstände  einen respektablen Platz in der Medizin des neuen Jahrtausends erkämpften. Gerade noch rechtzeitig, bevor alle überlieferten Kenntnisse um Heilpflanzen und Heilrituale vom Mantel des Vergessens völlig überdeckt wurden, erleben Heilpflanzenschulen, Kräuterfrauen, Schamaninnen und spirituelle Heilerinnen eine Renaissance ungeahnten Ausmaßes. Hätte das Bekenntnis mit Pflanzen zu heilen und zu kommunizieren, dass man die Pflanzen achtet und ihnen dankt für ihre Hilfe noch vor wenigen Jahrzehnten zu einem längeren Aufenthalt in der örtlichen Psychiatrie geführt, gehen heute viele Menschen offen mit ihrer Naturverbundenheit um. Sicher gibt es einige selbst ernannte Koryphäen, die aus Geltungsbedürfnis und Profitgier heraus anderen nicht nur helfen. Doch ist jetzt, wie auch zu Zeiten der ersten Kräuterfrauen, eine selbstkritische Haltung und die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und dem, was im Umfeld krank macht, notwendig um echte Heilung zu erfahren. Auch die Verwendung moderner standardisierter Phythotherapeutika allein kann nicht in jedem Fall die erwünschte Wirkung erzeugen, wenn die innere Einstellung und die Auseinandersetzung mit dem Auslöser einer Krankheit fehlen.
Die Heilrituale der früheren Kräuterfrauen sind vielleicht vergessen, doch steht es uns frei diese durch neue, in unsere Zeit passende zu ersetzten. Das Einnehmen eines Mittels zu bestimmten Zeiten ist die Erinnerung an ein Heilritual das zur festgelegten Tageszeit durchgeführt wurde. Auch Tropfen abzählen oder langsames Zergehen lassen von Kügelchen im Mund ist ein Heilritual. Die Zubereitung einer Tasse heißen Tees wie Abmessen der richtigen Menge Teekräuter, Erhitzen des Wassers auf die richtige Temperatur, Abdecken der Tasse und  Anklopfen des Deckel sind Bestandteile eines Heilrituals. Das Anlegen eines Wickels mit der Vorbereitung der Materialien und der Einhaltung der Ruhezeit kann ein Ritual sein. Diese modernen Rituale helfen dem Menschen, sich mit seiner Krankheit oder besser noch mit seiner Gesundheit auseinander zu setzten.
Frauen sind es zumeist, die die Notwendigkeit solch lästiger, zeitraubender Prozeduren am ehesten einsehen und diese in ihrer Familie anwenden. Frauen, die die alten Heilpflanzen und deren moderne Anwendung lernen sind es, die dieses Wissen an die Nachbarin, die Freundin oder Kollegin und nicht zuletzt an die nächste Generation weitergeben und so dazu beitragen, dass die Tradition der Kräuterfrauen wieder neu belebt wird. Und wieder sind es nur wenige, die dabei öffentlich in Erscheinung treten, Bücher schreiben und in renommierten Fachzeitschriften veröffentlichen oder eigene Schulen gründen und ihr neues altes Wissen in den Medien verbreiten. Wir brauchen diese öffentlichen Kräuterfrauen dringend, damit das Wissen um die Heilkräuter seinen hohen Stellenwert wieder zurückerhält. Doch werden die meisten der neuen Kräuterfrauen im Stillen wirken, im eigenen sozialen Umfeld, in der Familie oder im Kundenkreis ihrer beruflichen Tätigkeit, ganz in der Tradition der Frau in der Hecke. Es ist, als ob der rechte Zeitpunkt für die Wiederentdeckung ihrer Heilkunst und ihrer Magie, ihrer Spiritualität gerade jetzt gekommen ist. Als ob es nun die Zeit der Vereinigung von Gegensätzen ist, von moderner und traditioneller Medizin, von Rationalität und Spiritualität, ein Zeitpunkt von Dualität.

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