Zeit des Erinnerns –
Holunderzeit
Das Bild der Frau
als minderwertiges Anhängsel des Mannes hielt sich bis ins letzte Jahrhundert.
Lange Zeit durfte keine Frau studieren, einen Handwerksbetrieb leiten oder gar
wählen. Ihr war die Rolle der Hausfrau und Mutter zugeschrieben. Der Mann hatte
das Sagen, in der Familie wie in Staat und Kirche.
Erst mit den beiden
Weltkriegen, als viele Männer gefallen oder in Gefangenschaft waren, war die
Arbeit der Frau nötig, um das zerstörte Europa wieder aufzubauen. Doch dauerte
es noch bis in die wilden 60´ger des letzten Jahrhunderts, bis Frauen den Weg
zurück in Kirche, Politik und Medizin fanden.
Waren zu Zeiten der
beiden Kriege oft Heilkräuter die einzige zur Verfügung stehende Medizin, so
standen der ersten Nachkriegsgeneration – der Generation meiner Eltern – mehr
chemisch hergestellte Medikamente und Pflanzen“schutz“mittel zur Verfügung als
je zuvor. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir als Kinder mit Heiltees oder
Kräuteranwendungen in Berührung kamen.
Chemische Hustensäfte oder die Einnahme von Antibiotika bei fiebrigen
Erkältungen waren selbstverständlich. Lediglich zwei Zubereitungen, die meine
Oma noch herstellte, sind mir in Erinnerung geblieben: Das eine war eine
Tinktur aus Rosskastanien, mit denen die Frauen der Familie die Beine
einrieben, wenn diese nach einem langen Arbeitstag auf dem Feld schmerzten. Und
für einen entfernten Verwandten, der in der Stadt eine Arztpraxis betrieb,
stellte die Oma eine Art Gelee aus Quittenkernen, die dann auf schlecht
heilende Wunden aufgebracht wurde. Moderne Hydrokolloid-Pflaster haben eine
vergleichbare Wirkweise, sie halten die Wunden feucht und schützen vor
Verkeimung, so dass die Wunde nach und nach von den Wundrändern her zuwachsen
kann.
Die Generation meiner Eltern hatte sich ganz
dem modernen Fortschritt ergeben und glaubte gern den Versprechungen der
Industrie: Mehr Wachstum, mehr landwirtschaftlicher Ertrag, bessere Heilung
durch bessere, reinere Medizin. Die Chemiekonzerne erlebten einen Boom. Dabei
beruhen viele der chemisch hergestellten Medikamente auf pflanzlichen
Wirkstoffen, die im Labor nachgebaut wurden, jedoch in isolierter Form und
nicht im Zusammenhang mit den weiteren Wirkstoffen einer Pflanze. Die chemische
Medizin konnte wahre Wunder bewirken und wurde bedenkenlos eingesetzt. Zugegeben,
in den Jahrhunderten zuvor erlagen weitaus mehr Menschen Krankheiten, die mit
der modernen Medizin einfach zu heilen waren. Doch stiegen mit dem
unbekümmerten Einnehmen vieler chemischer Medikamente die Zahl
behandlungswürdiger Nebenwirkungen. Je mehr Leistung die Landwirtschaft, die
Industrie und auch die Medizin möglich machte, desto größer die Belastungen der
Menschen. Pflanzenheilkunde, das Kommunizieren mit Pflanzen sowie das Wirken
der wenigen verbliebenen heilkundigen Kräuterfrauen wurde bestenfalls
herablassend belächelt.
„Der Fortschritt von Wachstum ist Krebs“
„Der Fortschritt von Wachstum ist Krebs“
Parallel zu den
Errungenschaften der chemischen Industrie entwickelte sich ab den 60ger Jahren
eine Subkultur, die sich mich natürlicher Lebensweise und ökologischem Landbau
auseinandersetzte. Man wollte sich dem Diktat der Industrie nicht länger
hingeben und wieder selbst bestimmen, welchen Substanzen man seinen Körper und
die Natur aussetzte. In dieser Bewegung kamen nun auch vermehrt Frauen zu Wort
und machten sich auf den Weg zur eigenen Identität. Die aus heutiger Sicht manchmal überschäumende Lebensweise der Frauenrechtlerinnen und
Blumenkinder, der Hippies wie auch der Anarchisten und Nonkonformisten war
vielleicht erforderlich, um hier einen Paradigmenwechsel in Gang zu setzten. Zu
lange hatte man sich dem Diktat der Kirche, der Industrie und des Staates
ergeben, nun erwachte der Selbstbestimmungswille der Menschen. Man
machte sich auf die Suche nach dem Sinn des Lebens, weg von „höher, schneller,
weiter“. Die Ideologien fremder Kulturen – Indiens oder der Ureinwohner
Amerikas zum Beispiel – nahm man als Ersatz der eigenen verloren gegangenen
Wurzeln an.
Zwei Kräuterfrauen gelangten
als erste in den Fokus der Medien: Eva Aschenbrenner und Maria Treben. Beide
hatten sich das Wissen um die Heilkraft der Pflanzen erhalten, in ihren Büchern
beschrieben sie überlieferte Pflanzenanwendungen gegen allerlei Krankheiten.
Eigene Erfahrungen und ein überliefertes Wissen standen ihnen und mit ihren
Veröffentlichungen der Allgemeinheit wieder zur Verfügung. Doch wurden auch sie
zunächst nicht ernst genommen. Pflanzenheilkunde war wie die Hinwendung zu
spiritueller Lebensweise etwas für Außenseiter, für Freeks und Spinner.
Eine Generation lang
war man dem Glauben an die Industrie nahezu kritiklos verfallen. Doch dann
zeigten sich allmählich die ersten Auswirkungen in der Belastung von Gewässern
mit chemischem Dünger, in der Geburt körperbehinderter Kinder durch die
Einnahme eines als ungefährlich deklarierten Medikaments, im Nachweis von Wachstumshormonen
im Fleisch und den Auswirkungen auf den Menschen und in vielem anderem. Der
ökologische Landbau, die natürliche Form der Bewirtschaftung von Äckern und
Feldern kam in Mode, die Nachfrage nach unveränderten und unbelasteten
Nahrungsmitteln stieg. Auch der Ruf nach natürlichen Behandlungsmethoden wurde
laut. Traditionelle Chinesische Medizin mit der Anwendung von Heilpflanzen kam
in Mode und einige Ärzte nahmen diese Behandlungsmethoden mit in ihr Repertoire
auf. Die einheimischen Kräuter, die alten Heilanwendungen dagegen kannten und
nutzten nur noch wenige.
Seit einigen Jahren
suchen die Menschen auch wieder nach den Heilpflanzen der eigenen Kultur, nach
dem verlorenen Wissen der Kräuterfrauen. Einiges ist in ländlichen Gebieten,
insbesondere in den Alpenregionen erhalten geblieben und findet den Weg zurück
ins Bewusstsein der Menschen. Über den Weg der rationalen Phytotherapie erlangt
die Pflanzenheilkunde an neuem Ansehen. Die Schulmedizin verlässt sich dabei
noch immer auf messbare, untersuchte Wirkstoffe in den Pflanzen und benutzt
spezielle Züchtungen, in denen die Wirkstoffe in konzentrierter Form vorliegen
und Inhaltsstoffe, die Nebenwirkungen hervorrufen könnten, herausgezüchtet
sind.
Wieder sind es
überwiegend Frauen, die die Kurse der neuen Heilpflanzen-Schulen belegen um
sich das überlieferte Wissen wieder anzueignen. Die Moderne Kräuterfrau lernt
nicht mehr nur in der Hecke und von der Vorgängergeneration. Moderne
Kräuterfrauen profitieren vom Engagement einiger Pionierinnen, die sich dem
Wissen um die Heilkraft unserer Pflanzenwelt verschrieben haben und mit viel
Mut und gegen alle Widerstände einen
respektablen Platz in der Medizin des neuen Jahrtausends erkämpften. Gerade
noch rechtzeitig, bevor alle überlieferten Kenntnisse um Heilpflanzen und
Heilrituale vom Mantel des Vergessens völlig überdeckt wurden, erleben
Heilpflanzenschulen, Kräuterfrauen, Schamaninnen und spirituelle Heilerinnen
eine Renaissance ungeahnten Ausmaßes. Hätte das Bekenntnis mit Pflanzen zu
heilen und zu kommunizieren, dass man die Pflanzen achtet und ihnen dankt für
ihre Hilfe noch vor wenigen Jahrzehnten zu einem längeren Aufenthalt in der
örtlichen Psychiatrie geführt, gehen heute viele Menschen offen mit ihrer
Naturverbundenheit um. Sicher gibt es einige selbst ernannte Koryphäen, die aus
Geltungsbedürfnis und Profitgier heraus anderen nicht nur helfen. Doch ist
jetzt, wie auch zu Zeiten der ersten Kräuterfrauen, eine selbstkritische
Haltung und die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und dem, was im
Umfeld krank macht, notwendig um echte Heilung zu erfahren. Auch die Verwendung
moderner standardisierter Phythotherapeutika allein kann nicht in jedem Fall
die erwünschte Wirkung erzeugen, wenn die innere Einstellung und die
Auseinandersetzung mit dem Auslöser einer Krankheit fehlen.
Die Heilrituale der
früheren Kräuterfrauen sind vielleicht vergessen, doch steht es uns frei diese
durch neue, in unsere Zeit passende zu ersetzten. Das Einnehmen eines Mittels zu
bestimmten Zeiten ist die Erinnerung an ein Heilritual das zur festgelegten
Tageszeit durchgeführt wurde. Auch Tropfen abzählen oder langsames Zergehen
lassen von Kügelchen im Mund ist ein Heilritual. Die Zubereitung einer Tasse
heißen Tees wie Abmessen der richtigen Menge Teekräuter, Erhitzen des Wassers
auf die richtige Temperatur, Abdecken der Tasse und Anklopfen des Deckel sind Bestandteile eines
Heilrituals. Das Anlegen eines Wickels mit der Vorbereitung der Materialien und
der Einhaltung der Ruhezeit kann ein Ritual sein. Diese modernen Rituale helfen
dem Menschen, sich mit seiner Krankheit oder besser noch mit seiner Gesundheit
auseinander zu setzten.
Frauen sind es
zumeist, die die Notwendigkeit solch lästiger, zeitraubender Prozeduren am
ehesten einsehen und diese in ihrer Familie anwenden. Frauen, die die alten
Heilpflanzen und deren moderne Anwendung lernen sind es, die dieses Wissen an
die Nachbarin, die Freundin oder Kollegin und nicht zuletzt an die nächste
Generation weitergeben und so dazu beitragen, dass die Tradition der Kräuterfrauen
wieder neu belebt wird. Und wieder sind es nur wenige, die dabei öffentlich in
Erscheinung treten, Bücher schreiben und in renommierten Fachzeitschriften
veröffentlichen oder eigene Schulen gründen und ihr neues altes Wissen in den
Medien verbreiten. Wir brauchen diese öffentlichen Kräuterfrauen dringend,
damit das Wissen um die Heilkräuter seinen hohen Stellenwert wieder zurückerhält.
Doch werden die meisten der neuen Kräuterfrauen im Stillen wirken, im eigenen
sozialen Umfeld, in der Familie oder im Kundenkreis ihrer beruflichen Tätigkeit,
ganz in der Tradition der Frau in der Hecke. Es ist, als ob der rechte
Zeitpunkt für die Wiederentdeckung ihrer Heilkunst und ihrer Magie, ihrer
Spiritualität gerade jetzt gekommen ist. Als ob es nun die Zeit der Vereinigung
von Gegensätzen ist, von moderner und traditioneller Medizin, von Rationalität
und Spiritualität, ein Zeitpunkt von Dualität.
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