Mittwoch, 17. Dezember 2014

Kräuterweiber_letzter Teil



Der Holunder – die Pflanze vom richtigen Zeitpunkt
Ganz in der Gepflogenheit moderner Kräuterfrauen folgen zunächst die messbaren, nachweisbaren Fakten:
Der Holunder zählt zu den Geißblattgewächsen, Capirfoliaceae und tritt in Wäldern, an Flussufern sowie in Gärten und Anlagen in ganz Europa, West- und Mittelasien und Nordafrika auf. Es gibt weltweit rund 40 Holunderarten, wovon in unseren Breiten lediglich drei heimisch sind: der Rote oder Traubenholunder, Sambucus racemosa, der Strauchholunder, Sambucus ebulus und der in der Heilkunde verwendete Schwarze Holunder, Sambucus nigra. An einem ca. 3-8Meter hohen, flach wurzelnden astbesetzten Strauch oder Baum mit rissiger, hellbraun bis grauer Rinde. Die Rinde ist mit vielen Korkwarzen bewachsen, den sichtbaren Atmungsorganen, so genannten Lentizellen. Im hohlen Stängel findet sich ein weißes, leicht herauslösbares Mark. An den Ästen wachsen große, unpaarig angeordneten, 3- bis 7-zählig gefiederte Blätter. Im Frühjahr erscheinen große, in Trugdolden angeordnete flache Blütenstände mit gelblich-weißen, charakteristisch duftenden Blüten. Aus ihnen entwickeln sich im Herbst die schwarzen Holunderbeeren.
In der rationalen Phythotherapie finden sowohl Blüten als auch Beeren Anwendung. Die Blüten enthalten 0,7 bis 3,5% Flavonoide mit den Hauptkomponenten Rutin, ferner Isoquercitrin, Hyperosid u. a. Dazu ca 3% Hydroxyzmtsäurederivate (Chlorogensäure)  geringe Mengen ätherische Öle sowie Gerbstoffe, Phytosterine, Schleimstoffe, Triterpene, reichlich Kaliumsalze und schweißtreibend wirkende Glykoside.
Holunderblüten steigern die Abwehrkräfte und helfen bei starker Verschleimung., Husten und Stirnhöhlenentzündungen. Sie werden bei fieberhaften Erkältungskrankheiten und grippalen Infekten angewendet. Auch als Blutreinigungsmittel bei Hautunreinheiten und üblem Körpergeruch finden Holunderblüten Anwendung.
Holunderbeeren enthalten Flavonoidglykoside wie Rutin, Isoquercitrin und Hyperosid, Anthocyanglykoside wie Sambucin und Sambucyanin. Das schwach giftige Sambunigrin baut sich erst bei Reife oder beim Kochen ab, daher sollten Holunderbeeren vorzugsweise in gekochtem Zustand angewandt werden. Weiter enthalten sind Zucker, organische Säuren wie Ascorbinsäure, Weinstein- und Valeriansäure, Bitterstoffe und Vitamine (A, B1, B2, C) 100 g. frische Beeren enthalten ca 65mg Vitamin B2, 18 mg Vitamin C und 17 mg Folsäure. Holunderbeeren werden als gekochter Saft bei Erkältungen und als mildes Abführmittel angewandt. Weiter dienen sie durch das Vitamin B der Schmerzlinderung bei Nervenschmerzen. Aufgrund der zellschützenden Anthozyane setzt man Holunderbeeren in der Begleittherapie von Krebserkrankungen ein. Das enthaltene Kalium unterstützt die Ausscheidungsfunktionen und die Karotinoide die Funktion der Schleimhäute und den Sehpurpur der Augen.
Die Darreichungsformen  reichen von Tee über Bäder aus den Blüten bis zur Limonade oder Essig. Beeren werden meist als gekochter Saft dargereicht. [1]
Früher hatte der Holunder einen weitaus größeren Anwendungsbereich. Im Kräuterbuch von Dr. Losch[2] steht: Holunderblüten erweichen, lösen auf, mehren die Milch, lindern Schmerzen, treiben Schweiß. Der Tee wird besonders alten Leuten gegen Blutspeien und hartnäckigen Husten empfohlen.  Blüten gehören zum Eröffnungs- oder Gesundheitstee, zu den Hauptkräutern, zu den Kataplasmenstoffen, zu dem erweichenden Klistier zum erweichenden Gurgelwasser zu den zerteilenden Kräutern. Holunderblütentee ist auch ein Wundmittle zum Waschen und zum Klistier. Die Blätter in Milch gesotten führen ab, sie dienen auch zu Kataplasmen auf Brandwunden und Hämorrhoiden. Die zerquetschten grünen Schoße mit den Blättern, im Wintder die geschabte gründe Mittelrinde, dienen zum Auflegen auf entzündete Stellen und haben erprobte Wirkung. Die Mittelrinde der Wurzel dient besonders als Abführmittel. (Von Rudi Beiser wissen wir auch, dass die Richtung in die geschabt wurde eine Rolle spielte: Schaben zur Wurzel hin erzeugt Durchfall, schaben zur Spitze hin dagegen Erbrechen.)Die Beeren wirken giftwidrig, schweiß- und harntreibend, ruhrstillen.
Der Kräuterpfarrer Kneipp empfahl zur Frühlingskur Blutreinigungstee aus Holunderblättern und legte auch der Blüte reinigende Wirkung bei. Den Absud der Wurzel lobte er für Wassersucht und bestätigt damit, was schon Hippokrates erprobte, dass dieser Absud so kräftig Wasser austreibe, dass er kaum von irgendeinem andren Mittel übertroffen werde. Arme Leute kochten aus dem Saft mit Zucker eine Limonade, welche in Kühl- und Labetrunk war, der den Magen reinigt, auf die Harnausscheidung und günstig auf die Nieren wirkt. Die Gedörrten Beeren gekocht oder zu Tee abgesotten oder einfach gegessen wirken sehr gut bei heftigem Abweichen.
Zahlreiche Geschichten aus allen Völkern ranken sich um die Heilkraft und die Magie des Holunders:
Bei den Germanen und Slawen war der Holunder ein Lebensbaum der den Sippengeist beherbergte. Sie verehrten die Liebesgöttin Freya in seinen Zweigen, die als Hand, Ohr und Mund der Göttin galten. Niemand musste einen Holunder pflanzen denn die Göttin selbst fand den besten Platz für einen Holunderbusch.
In Schweden heißt es, wer am Mittsommerabend unter einem blühenden Holunder sitzt, der wird den König der Elfen mit seinem Gefolge vorbeiziehen sehen. Oder vielleicht ist es auch die Göttin, die da unter dem Holunder erscheint? 
Holunder wächst bevorzugt in der Nähe menschlicher Behausungen, er ist von alters her ein Begleiter der Menschen. In Nordeuropa, bei uns, sagte man Früher, dass Frau Holle (die Göttin Hulda) als Schutzgeist im Holunder wohnt. Sie schützte vor Feuer, Seuchen und jeglichem Unheil und schaute jeden Abend durch die Fenster um zu prüfen, ob alles in Ordnung war. Der Holunder als guter Haus- und Hofgeist nahm den Kindern die Alpträume. Das erste Badewasser eines Neugeborenen wurde unter den Holunderbusch geschüttet, damit das Kind gesund blieb. Damals durfte der Holderstock an keinem Bauernhaus fehlen; er gehörte zur Hausehre und böswillige Beschädigung desselben galt als persönliche Beleidigung. Der Holunderbusch macht in altem Glauben negative Energien und Unglück unschädlich, deswegen hat man ihm alle möglichen Leiden und Krankheiten „angehängt“: Alte Verbände oder eitrige Lappen wurden mit magischen Sprüchen an die Zweige gebunden um die Krankheit zu bannen. [3]
Auch in christlichen Zeiten war dies noch gebräuchlich:  „Guten Tag, Flieder, ich bring dir mein Fieber, ich binde es an und geh in Gottes Namen davon“  Vor einem derart Mächtigen Busch zog man ehrerbietig den Hut „Vor dem Holunder zieh den Hut herunter“. 
Holunder ist auch eine Schwellenpflanze und daher für mich ein Symbol der wieder entdeckten Tradition der Kräuterfrauen. Einige Anwendungen und Geschichten weisen besonders auf diese Eigenschaft: Gekochte schwarzen Beeren sind heilsam, die roten unreifen hingegen giftig. Der Baum ist schwer, zieht in die Tiefe, sein Holz hingegen ist leicht und luftig. Weiß wie die Unschuld, das beginnende Leben, schwarz wie der Tod ist seine Signatur mit den weißen Blüten und den schwarzen Beeren ein Symbol der Vereinigung von Gegensätzen Die Germanen verwendeten Holunderruten bei Begräbnissen, Hollerbüsche wurden auf Gräbern gepflanzt, wer mit Ahnen kommunizieren wollte, ging zum hofeigenen Holunderbusch
Schutzräucherungen mit Holundermarkt helfen, an der Schwelle zu neuen Schritten im Leben den rechten Zeitpunkt für das Handeln zu finden. Auch die Blüten werden verräuchert um eine leichte, geschützte, unbeschwerte und zuversichtliche Atmosphäre zu schaffen. Mark und Holz werden besonders zu den wichtigen Jahreskreisfesten und in den Raunächten geräuchert. [4]
Dabei rät mir der Holunder, mir nötige Zeit auch zu nehmen, nicht zu hetzen sondern geruhsam an die Arbeit zu gehen. Ich freue mich immer darüber, dass sich die Blüten nicht alle auf einmal öffnen sondern mir oft mehrere Wochen Zeit lassen, sie abzunehmen und zu trocknen oder zu verarbeiten. An sonnigen Standorten blüht der Holunder früher und im Schatten später, doch auch an einem Busch öffnen sich die Blüten nach und nach. Im Herbst ergeht es mit den Beeren genau so, sind die Beeren auf der Schattenseite eines Holunders noch fast grün und unreif können die auf der Sonnenseite bereits geerntet werden und ich kann geruhsam an die Arbeit gehen, ohne befürchten zu müssen, ich verpasse die Ernte.
Die Eldermutter, Erdmutter, Holle, so glaubte man, zieht das Übel in die Unterwelt und läutert es dort zum Guten, bevor dessen Energie wieder an die Oberfläche darf.  Also war der Holunder der Vermittler zwischen der oberirdischen und der unterirdischen Welt, eine Art Tor zur Anderswelt, schon seit keltischen Zeiten. Ein Frevler, der den Holunder stutzte oder sein Holz verbrannte musste damit rechnen, dass die im Holunder gebannten bösen Kräfte auf ihn übergingen.
Im Märchen der Frau Holle ist die Botschaft des Holunders vom rechten Zeitpunkt verborgen. Frau Holle ist die Erdmutter, die an der Wurzel des Holunders lebt, an der Schwelle zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt. Die weißen Blüten des Holunders sind wie der Schnee, der fällt wenn Frau Holle ihre Betten ausschüttelt. Seine Beeren sind schwarz wie das Pech, das am Tor über die herabfällt, die die Botschaft der Holle nicht verstehen wollen. Dass sich die Goldmarie beim Spinnen verletzt ist ebenfalls symbolisch – wir erinnern uns an die drei Göttinnen, die am Lebensbaum sitzen und den Lebensfaden der Menschen spinnen, wickeln und abschneiden. Auf der weltlichen Seite trafen sich die Frauen in Spinnstuben um gemeinsam nicht nur Fäden zu spinnen sondern auch um sich die alten Geschichten zu erzählen. Hier wurde über lange Zeit das Wissen verlorener Zeiten noch recht unverhohlen weitergegeben, denn Männer hatten zu den Spinnstuben keinen Zugang. Heute würde man sagen, hier wurden Netzwerke gesponnen, die den Frauen erlaubten, verbotenes Wissen weiterzugeben.
Der Brunnen war der Übergang zwischen der oberen und der unteren Welt, bestimmt stand auch ein Holunder in seiner Nähe. Die kluge Marie, nachdem sie das Tor zur Anderswelt überschritten hatte,  erkannte den richtigen Zeitpunkt, an dem das fertig gebackene Brot aus dem Ofen geholt werden musste oder zu dem die reifen Äpfel geerntet wurden. Halbgebackenes oder verbranntes Brot sind genau so wenig bekömmlich wie unreife oder faule Äpfel. Wer den rechten Zeitpunkt für eine Aufgabe oder eine Idee nicht erkennt, gefährdet in der Symbolik von Apfel und Brot das Überleben, im übertragenen Sinn wird eine zu früh ausgesprochene Idee nicht ernst genommen, hält man sie zu lange zurück ist sie vielleicht schon wieder bedeutungslos und überholt, bevor sie recht zum Tragen kommt. Goldmarie erkannte den Rechten Zeitpunkt, dafür erhielt sie bei ihrer Rückkehr großen Lohn. Die Pechmarie war vor allem auf den Lohn aus, ohne ihre Aufgaben zur rechten Zeit wahrzunehmen und auszuüben. Der Lohn für ihre mangelnde Aufmerksamkeit war holunderbeerschwarzes Pech, das an ihr haften blieb als sie auf die Obere Welt zurückkehrte und noch heute ist „Pech“ ein Wort dafür, dass eine Sache nicht gelungen ist.
Holunder gilt als guter Begleiter in schwierigen Übergangszeiten im Leben. Er hüllt in vertrauensvollen Schutz und wärmende Geborgenheit. Er bringt Menschen, die das Leben als Kampf empfinden neue Perspektiven bei der Problembetrachtung. Die eigenen Wünsche und Aufgaben werden bewusst und wieder mit Energie aufgeladen. Der Boden unter den Füßen wird kraftvoll spürbar und verbindet mit der Energie der Erde. Holunder ist ein Lehrer des Respekts in allen Beziehungen. Er lehrt, alte Erfahrungen und neue Gelegenheiten zu verbinden und sich so immer weiter zu entwickeln.  
Für mich ist daher der Holunder  auch die Pflanze der Übergangszeit zwischen dem völligen Vergessen des Wissens der Kräuterfrauen und deren Rückkehr in die Medizin. Noch ist die rechte Balance zwischen der traditionellen, naturverbundenen Pflanzenmedizin und der rationalen, auf mess- und nachweisbare Substanzen ausgerichtete Schulmedizin nicht hergestellt. Der richtige Zeitpunkt scheint noch nicht ganz gekommen, in der beides selbstverständlich seine jeweils eigenen Domänen hat. Doch sind wir bereits auf dem Weg, in der Sprache des Holunders sind die Blüten auf der Sonnenseite bereits geöffnet und alle andren werden folgen.





[1] (Bühring, 2011) (Bäumler, 2004)
[2] (Losch, 1997 / Reprint aus 1903)
[3] (Stumpf, 3. Auflage 2012)
[4] (Kinkele, 2012)

Samstag, 13. Dezember 2014

Kräuterfrauen_4.Teil



Zeit des Erinnerns – Holunderzeit
Das Bild der Frau als minderwertiges Anhängsel des Mannes hielt sich bis ins letzte Jahrhundert. Lange Zeit durfte keine Frau studieren, einen Handwerksbetrieb leiten oder gar wählen. Ihr war die Rolle der Hausfrau und Mutter zugeschrieben. Der Mann hatte das Sagen, in der Familie wie in Staat und Kirche.
Erst mit den beiden Weltkriegen, als viele Männer gefallen oder in Gefangenschaft waren, war die Arbeit der Frau nötig, um das zerstörte Europa wieder aufzubauen. Doch dauerte es noch bis in die wilden 60´ger des letzten Jahrhunderts, bis Frauen den Weg zurück in Kirche, Politik und Medizin fanden.
Waren zu Zeiten der beiden Kriege oft Heilkräuter die einzige zur Verfügung stehende Medizin, so standen der ersten Nachkriegsgeneration – der Generation meiner Eltern – mehr chemisch hergestellte Medikamente und Pflanzen“schutz“mittel zur Verfügung als je zuvor. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir als Kinder mit Heiltees oder Kräuteranwendungen in Berührung kamen.  Chemische Hustensäfte oder die Einnahme von Antibiotika bei fiebrigen Erkältungen waren selbstverständlich. Lediglich zwei Zubereitungen, die meine Oma noch herstellte, sind mir in Erinnerung geblieben: Das eine war eine Tinktur aus Rosskastanien, mit denen die Frauen der Familie die Beine einrieben, wenn diese nach einem langen Arbeitstag auf dem Feld schmerzten. Und für einen entfernten Verwandten, der in der Stadt eine Arztpraxis betrieb, stellte die Oma eine Art Gelee aus Quittenkernen, die dann auf schlecht heilende Wunden aufgebracht wurde. Moderne Hydrokolloid-Pflaster haben eine vergleichbare Wirkweise, sie halten die Wunden feucht und schützen vor Verkeimung, so dass die Wunde nach und nach von den Wundrändern her zuwachsen kann.
 Die Generation meiner Eltern hatte sich ganz dem modernen Fortschritt ergeben und glaubte gern den Versprechungen der Industrie: Mehr Wachstum, mehr landwirtschaftlicher Ertrag, bessere Heilung durch bessere, reinere Medizin. Die Chemiekonzerne erlebten einen Boom. Dabei beruhen viele der chemisch hergestellten Medikamente auf pflanzlichen Wirkstoffen, die im Labor nachgebaut wurden, jedoch in isolierter Form und nicht im Zusammenhang mit den weiteren Wirkstoffen einer Pflanze. Die chemische Medizin konnte wahre Wunder bewirken und wurde bedenkenlos eingesetzt. Zugegeben, in den Jahrhunderten zuvor erlagen weitaus mehr Menschen Krankheiten, die mit der modernen Medizin einfach zu heilen waren. Doch stiegen mit dem unbekümmerten Einnehmen vieler chemischer Medikamente die Zahl behandlungswürdiger Nebenwirkungen. Je mehr Leistung die Landwirtschaft, die Industrie und auch die Medizin möglich machte, desto größer die Belastungen der Menschen. Pflanzenheilkunde, das Kommunizieren mit Pflanzen sowie das Wirken der wenigen verbliebenen heilkundigen Kräuterfrauen wurde bestenfalls herablassend belächelt.
„Der Fortschritt von Wachstum ist Krebs“
Parallel zu den Errungenschaften der chemischen Industrie entwickelte sich ab den 60ger Jahren eine Subkultur, die sich mich natürlicher Lebensweise und ökologischem Landbau auseinandersetzte. Man wollte sich dem Diktat der Industrie nicht länger hingeben und wieder selbst bestimmen, welchen Substanzen man seinen Körper und die Natur aussetzte. In dieser Bewegung kamen nun auch vermehrt Frauen zu Wort und machten sich auf den Weg zur eigenen Identität.  Die aus heutiger Sicht manchmal überschäumende  Lebensweise der Frauenrechtlerinnen und Blumenkinder, der Hippies wie auch der Anarchisten und Nonkonformisten war vielleicht erforderlich, um hier einen Paradigmenwechsel in Gang zu setzten. Zu lange hatte man sich dem Diktat der Kirche, der Industrie und des Staates ergeben, nun erwachte der Selbstbestimmungswille der Menschen.   Man machte sich auf die Suche nach dem Sinn des Lebens, weg von „höher, schneller, weiter“. Die Ideologien fremder Kulturen – Indiens oder der Ureinwohner Amerikas zum Beispiel – nahm man als Ersatz der eigenen verloren gegangenen Wurzeln an.
Zwei Kräuterfrauen gelangten als erste in den Fokus der Medien: Eva Aschenbrenner und Maria Treben. Beide hatten sich das Wissen um die Heilkraft der Pflanzen erhalten, in ihren Büchern beschrieben sie überlieferte Pflanzenanwendungen gegen allerlei Krankheiten. Eigene Erfahrungen und ein überliefertes Wissen standen ihnen und mit ihren Veröffentlichungen der Allgemeinheit wieder zur Verfügung. Doch wurden auch sie zunächst nicht ernst genommen. Pflanzenheilkunde war wie die Hinwendung zu spiritueller Lebensweise etwas für Außenseiter, für Freeks und Spinner.
Eine Generation lang war man dem Glauben an die Industrie nahezu kritiklos verfallen. Doch dann zeigten sich allmählich die ersten Auswirkungen in der Belastung von Gewässern mit chemischem Dünger, in der Geburt körperbehinderter Kinder durch die Einnahme eines als ungefährlich deklarierten Medikaments, im Nachweis von Wachstumshormonen im Fleisch und den Auswirkungen auf den Menschen und in vielem anderem. Der ökologische Landbau, die natürliche Form der Bewirtschaftung von Äckern und Feldern kam in Mode, die Nachfrage nach unveränderten und unbelasteten Nahrungsmitteln stieg. Auch der Ruf nach natürlichen Behandlungsmethoden wurde laut. Traditionelle Chinesische Medizin mit der Anwendung von Heilpflanzen kam in Mode und einige Ärzte nahmen diese Behandlungsmethoden mit in ihr Repertoire auf. Die einheimischen Kräuter, die alten Heilanwendungen dagegen kannten und nutzten nur noch wenige.
Seit einigen Jahren suchen die Menschen auch wieder nach den Heilpflanzen der eigenen Kultur, nach dem verlorenen Wissen der Kräuterfrauen. Einiges ist in ländlichen Gebieten, insbesondere in den Alpenregionen erhalten geblieben und findet den Weg zurück ins Bewusstsein der Menschen. Über den Weg der rationalen Phytotherapie erlangt die Pflanzenheilkunde an neuem Ansehen. Die Schulmedizin verlässt sich dabei noch immer auf messbare, untersuchte Wirkstoffe in den Pflanzen und benutzt spezielle Züchtungen, in denen die Wirkstoffe in konzentrierter Form vorliegen und Inhaltsstoffe, die Nebenwirkungen hervorrufen könnten, herausgezüchtet sind.
Wieder sind es überwiegend Frauen, die die Kurse der neuen Heilpflanzen-Schulen belegen um sich das überlieferte Wissen wieder anzueignen. Die Moderne Kräuterfrau lernt nicht mehr nur in der Hecke und von der Vorgängergeneration. Moderne Kräuterfrauen profitieren vom Engagement einiger Pionierinnen, die sich dem Wissen um die Heilkraft unserer Pflanzenwelt verschrieben haben und mit viel Mut und gegen alle Widerstände  einen respektablen Platz in der Medizin des neuen Jahrtausends erkämpften. Gerade noch rechtzeitig, bevor alle überlieferten Kenntnisse um Heilpflanzen und Heilrituale vom Mantel des Vergessens völlig überdeckt wurden, erleben Heilpflanzenschulen, Kräuterfrauen, Schamaninnen und spirituelle Heilerinnen eine Renaissance ungeahnten Ausmaßes. Hätte das Bekenntnis mit Pflanzen zu heilen und zu kommunizieren, dass man die Pflanzen achtet und ihnen dankt für ihre Hilfe noch vor wenigen Jahrzehnten zu einem längeren Aufenthalt in der örtlichen Psychiatrie geführt, gehen heute viele Menschen offen mit ihrer Naturverbundenheit um. Sicher gibt es einige selbst ernannte Koryphäen, die aus Geltungsbedürfnis und Profitgier heraus anderen nicht nur helfen. Doch ist jetzt, wie auch zu Zeiten der ersten Kräuterfrauen, eine selbstkritische Haltung und die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und dem, was im Umfeld krank macht, notwendig um echte Heilung zu erfahren. Auch die Verwendung moderner standardisierter Phythotherapeutika allein kann nicht in jedem Fall die erwünschte Wirkung erzeugen, wenn die innere Einstellung und die Auseinandersetzung mit dem Auslöser einer Krankheit fehlen.
Die Heilrituale der früheren Kräuterfrauen sind vielleicht vergessen, doch steht es uns frei diese durch neue, in unsere Zeit passende zu ersetzten. Das Einnehmen eines Mittels zu bestimmten Zeiten ist die Erinnerung an ein Heilritual das zur festgelegten Tageszeit durchgeführt wurde. Auch Tropfen abzählen oder langsames Zergehen lassen von Kügelchen im Mund ist ein Heilritual. Die Zubereitung einer Tasse heißen Tees wie Abmessen der richtigen Menge Teekräuter, Erhitzen des Wassers auf die richtige Temperatur, Abdecken der Tasse und  Anklopfen des Deckel sind Bestandteile eines Heilrituals. Das Anlegen eines Wickels mit der Vorbereitung der Materialien und der Einhaltung der Ruhezeit kann ein Ritual sein. Diese modernen Rituale helfen dem Menschen, sich mit seiner Krankheit oder besser noch mit seiner Gesundheit auseinander zu setzten.
Frauen sind es zumeist, die die Notwendigkeit solch lästiger, zeitraubender Prozeduren am ehesten einsehen und diese in ihrer Familie anwenden. Frauen, die die alten Heilpflanzen und deren moderne Anwendung lernen sind es, die dieses Wissen an die Nachbarin, die Freundin oder Kollegin und nicht zuletzt an die nächste Generation weitergeben und so dazu beitragen, dass die Tradition der Kräuterfrauen wieder neu belebt wird. Und wieder sind es nur wenige, die dabei öffentlich in Erscheinung treten, Bücher schreiben und in renommierten Fachzeitschriften veröffentlichen oder eigene Schulen gründen und ihr neues altes Wissen in den Medien verbreiten. Wir brauchen diese öffentlichen Kräuterfrauen dringend, damit das Wissen um die Heilkräuter seinen hohen Stellenwert wieder zurückerhält. Doch werden die meisten der neuen Kräuterfrauen im Stillen wirken, im eigenen sozialen Umfeld, in der Familie oder im Kundenkreis ihrer beruflichen Tätigkeit, ganz in der Tradition der Frau in der Hecke. Es ist, als ob der rechte Zeitpunkt für die Wiederentdeckung ihrer Heilkunst und ihrer Magie, ihrer Spiritualität gerade jetzt gekommen ist. Als ob es nun die Zeit der Vereinigung von Gegensätzen ist, von moderner und traditioneller Medizin, von Rationalität und Spiritualität, ein Zeitpunkt von Dualität.

Dienstag, 25. November 2014

Kräuterweiber_3.Teil



Zeit des Vergessens  - Beifußzeit
Der nächste und weitaus nachhaltigere Wandel in der Gesellschaft und damit auch für das Wirken der Kräuterfrauen brachte die Christianisierung. Die Geschichten zu den Veränderungen, die dieser neue Glaube mit sich brachte, füllen ganze Bibliotheken. Jeder Geschichtsschreiber bringt dabei auch seine eigene Weltanschauung mit ein, jeder betrachtet die Auswirkungen aus einem anderen Blickwinkel. Insbesondere über die Hexenverfolgung, die in hohem Maße auch eine Verfolgung der alten Heilkunde und dem Wissen der Kräuterfrauen war, existiert eine Menge an Literatur. Ich werde hier nur einige Aspekte aus unterschiedlichen Epochen beleuchten, um den Rahmen nicht zu sprengen.  
Die bis zum Auftauchen der ersten christlichen Missionare in Nordeuropa verehrten weiblichen Gottheiten  galten als die Lebensspenderinnen, Erdmütter, Erntebringerinnen. Freya, Diana, Holle oder Hulda, Venus, Demeter um nur einige zu nennen wurden als Göttinnen verehrt und hatten ihren festen Platz im Leben der Menschen. Jede der Gottheiten wurde für ihren eigenen speziellen Wirkungskreis angerufen. Der neue Glaube an einen monotheistischen männlichen Gott  entsprang einer völlig anderen Kultur. In den Oasen der Wüsten beschränkte man sich auf einen einzigen, mächtigen, allein herrschenden männlichen Gott. Der neue Gott als Erlöser fand zunächst in den niedrigen Bevölkerungs-schichten Beachtung, erst als der größte Teil der Menschen den neuen Glauben angenommen hatte, wurde er zur Staatsreligion im Römischen Reich. Dem neuen Gott wurden die Rolle des Wohltäters, Allwissenden, Heilers zugeschrieben,  für die alten Götter blieben die negativen Eigenschaften, sie wurden zu menschenfeindlichen Dämonen erklärt. Der Glaube an nur einen männlichen Gott veränderte das Ansehen der Frauen im Allgemeinen und der heilkundigen Frau im Besonderen, die Auswirkungen sind bis heute zu spüren. Vom Beginn der missionarischen Tätigkeit an wurden die weisen Frauen diffamiert, die Kultur der weiblichen, kräuterkundigen Heilerinnen und die indigene, naturorientierte Lebensweise waren Rivalen im Kampf und die Seele.
Über einen langen Zeitraum blieben die heilkundigen Frauen – gerade in dünner besiedelten Gebieten - offen tätig, wenngleich oft im volkschristlichen Gewand. Sie sammelten weiterhin ihre Kräuter in der Hecke, im Wald und auf dem Feld, brauten ihre heilkräftigen Tränke und rührten Salben. Bis ins Mittelalter hinein waren sie die Trägerinnen alter Spiritualität Von diesen Frauen ist in den Geschichtsbüchern nichts geblieben, dennoch waren Sie für die körperliche und seelische Gesundheit der Menschen unersetzlich. Die Menschen brauchten die Kräuterfrauen  und verehrten weiterhin ihre Götter in den alten Naturritualen. Der neue Glaube floss zum Teil einfach in den alten mit ein, beides existierte miteinander. Bis ins 17. Jahrhundert stand in Köln ein Tempel der Venus genau so selbstverständlich wie eine christliche Kirche.
In den größeren Siedlungen verlegte man die Anbetung des neuen Gottes in feste Gebäude, in den Ritualen der christlichen Gottesdienste war kein Platz mehr für die Verehrung der Natur. Auch die Menschen lebten zunehmend hinter festen Mauern, viele Menschen zogen das vermeintlich einfachere Leben in den Städten dem harten Stand des Bauern vor. Die bisher gelebten Bräuche, die Natur und deren Wesenheiten, die alten Götter und das Wissen um die Heilkraft der Pflanzen gerieten mehr und mehr in Vergessenheit.
Was man nicht mehr kennt, macht immer auch Angst, so mutierten die einst verehrten
(Pflanzen-)Geister zu Schreckgespenstern.  Krankheit galt nun als Strafe für schlechtes Benehmen und musste als solche angenommen werden, nur Reue konnte zur Heilung führen. Bußpraktiken und Wallfahrten – oft verbunden mit der Zahlung wirtschaftlicher Güter an die Kirche, florierten als Heilmittel. Wenn Heilung erlaubt war, dann höchstens durch einen der christlichen Prediger. Die Verwendung der über die Jahrhunderte erlangten Pflanzenheilkunde geriet in Verruf, heilkundige Frauen wurden nun als Wiedersacher des neuen Gottes als „göttlicher Arzt“ angesehen. Da sie in ihren Zyklen und in der Gebärfähigkeit ohnehin der Natur näherstanden als der Mann war es naheliegend, dass ihnen die Rolle der Zwiespältigen, Unheilbringenden und Undurchschaubaren zugeschrieben wurde. Die Heilkunst der Kräuterfrauen wurde nach und nach in den Hintergrund gedrängt und verlor an Bedeutung.
Dies allein der christlichen Kirche zuzuschreiben wäre wohl unfair, sie gelangte nur deshalb zu immer mehr Macht, weil das Volk dies zuließ und die alten Götter durch den neuen Glauben ersetzte. Ich frage mich, was die Menschen dazu brachte den Priestern und ihren Lehren mehr vertrauten als der eigenen Geschichte? War es, weil dieser eine Gott einfacher zu verehren war, als eine Vielzahl von Götter, die Aufmerksamkeit verlangten? War es, weil man die Verantwortung für das eigene Leben diesem Gott übergeben konnte?
Mit dem Christentum gelangten auch neue Heilpflanzen nach Nordeuropa, die als besonders heilkräftig angesehen wurden, da sie direkt aus dem Heiligen Land kamen oder in der Bibel Erwähnung fanden. Mönche und Nonnen bauten die neuen wie auch die alten Heilpflanzen in Klostergärten an, doch fehlte das Wissen um den rechten Standort oder den besten Erntezeitpunkt oder die geeigneten Rezepturen. Die Pflanzen des Mittelmeers entfalteten in den kälteren Regionen nicht dieselbe Kraft wie im Süden und kamen daher gegen die einheimischen Heilkräuter in ihrer Wirksamkeit nicht an. Bei den einheimischen Heilpflanzen fehlte in der Anwendung in der Klosterheilkunde der Kontext, das Ritual des Heilwerdens mit dem die Kräuterfrauen ihre Heilanwendungen betrieben. Die traditionelle Kräuterkunde der Frauen verordnete seltener einzelne Pflanzen als vielmehr intelligent Entwickelte Rezepturen, bei der verschiedene Komponenten sich in ihrer Wirkung unterstützten oder Nebenwirkungen unterdrückten. Sie nahmen die Krankheit in anderen Zusammenhängen war, als die Kirche und konnten aus ihrer Erfahrung heraus oft besser helfen als die Klostermedizin. Die Kirchenmänner wurden misstrauisch und fürchteten um ihre Glaubwürdigkeit, wenn die Heilkunst der Kräuterfrauen wirksamer war als ihre eigene. Sie  nahm die bessere Wirksamkeit der traditionellen Heilanwendungen auch zum Anlasse, den Kräuterfrauen Zauberei zu unterstellen, damals eine Todsünde. So mussten die Kräuterfrauen sich mit ihrem Wissen mehr und mehr verstecken und konnten oftmals auch nur heimlich aufgesucht werden. Wehe, wenn sie dabei erwischt wurden oder wenn ein Kranker nicht die Wirkung erhielt, die er sich erwünschte. Schnell war die Schuldige gefunden, angeklagt und verurteilt.
Im 13. Jahrhundert wurde der Ärzte- und Apothekerstand voneinander getrennt, Arzneimittelpreise festgelegt und der Standort von Apotheken bestimmt. Der Beruf des Mediziners durfte nur noch von Ärzten betrieben werden, die an den neu entstandenen Universitäten studiert hatten.[1] Das Studium selbst war nur Männern erlaubt. Die Tätigkeiten der Kräuterfrauen noch mehr als zuvor illegal, allenfalls geduldet. Jahrhunderte altes Heilwissen der Frauen wurde verdrängt und verboten, die alten Frau aus der Hecke, die Hagezusse, wurden zur gefährlichen Hexe, die mit dem Teufel im Bunde steht. Das über Generationen von Kräuterfrauen weitergegebene Wissen fand zwar teilweise Eingang in die Bücher der Gelehrten, doch durch das bloße Aufschreiben fehlte der Bezug. Nicht selten schlichen sich auch Übertragungsfehler ein,  durch Missverständnisse oder schlecht lesbare Handschriften und aufgrund der fehlenden einheitlichen Schriftsprache. So hatten die alten Rezepte nicht die Wirksamkeit, die man erwartete, was wiederum den guten Ruf der Kräuterfrauen schwächte. Wieder ein Grund mehr, ihnen Hexerei und einen Teufelspakt zu unterstellen. Zwar waren immer noch viele Menschen vom alten Wissen über Heilpflanzen und deren Anwendung  abhängig, es gab nicht genügend Ärzte, insbesondere außerhalb der Städte und wenn es diese gab, konnten sich nicht alle deren Behandlung leisten.
Das Wissen der alten Frau aus der Hecke wurde z. T. von den Klöstern überlagert und vermischte sich mit der Klosterheilkunde. Ganz verdrängt wurde es nicht, doch stark verändert und im neuen Bild der Kirche weiter angewandt. Hildegard von Bingen (1098 – 1179) ist das wohl bekannteste Beispiel der weiblichen Klosterheilkunde. Ihr naturkundliches Werk die „Physica“ behandelt  nach der im Schöpfungsbericht beschriebenen Reihenfolge die Pflanzen, Elemente, Bäume, Steine, Fische, Vögel, Tiere, Reptilien und Metalle, sie erläutert  deren Eigenschaften und ihren Nutzen für den Menschen. In der „Cause et curae“ beschreibt sie eine Fülle damals bekannter Krankheiten in Verbindung mit entsprechenden Therapien.  Sie ist die einzige Frau der alten Zeit, von der uns schriftliche Überlieferungen erhalten blieben. Doch zählt sie schon nicht mehr zur Tradition der alten Kräuterfrauen, ihr Wirken war durch die christliche Mythologie beeinflusst. Um die Macht der alten Götter, der Erkenntnisse der neuen Völker und das Wissen der Kräuterfrauen zu unterminieren wurden deren Bräuche verleugnet, als Hirngespinste abgetan und als sündig verteufelt. Oder man machte diese lächerlich, nahm die Rituale nicht ernst und verspottete die, die sie anwandten. Wo dies nicht gelang ging man dazu über, alte Bräuche zu assimilieren. Die Gottheiten der alten Zeit ersetzte man durch neue sog. Heilige. Alle guten Eigenschaften der weiblichen Gottheiten schrieb man Maria, der Mutter Gottes, zu. Viele Rituale und Feste mit denen die alten Götter verehrt wurden, fanden in veränderter Weise nun zu Ehren des neuen Gottes oder der Gottesmutter statt. Flurprozessionen zu Christi Himmelfahrt oder die zu Maria Himmelfahrt gesammelten Kräutersträuße oder das Aufstellen eines Maibaumes erinnern bis heute an alte Jahreskreisrituale.

Ab dem15. Jahrhundert veränderten einige Ereignisse die Welt erneut in erheblicher Weise. Der Buchdruck ermöglichte nun, die Kräuterbücher auch in der Sprache des Volkes zu veröffentlichen und mehr Menschen zugänglich zu machen. Damit verlor man die Abhängigkeit vom mündlich überlieferten Wissen der Frauen. Mit der Entdeckung des amerikanischen Kontinents schleppten die Seefahrer neue Krankheiten nach Europa, gegen die hier „kein Kraut gewachsen war“, auch die Kräuterfrauen standen dem meist machtlos gegenüber. Dazu kam die sog. kleine Eiszeit des 16. Jahrhunderts in der Hungersnöte grassierten sowie die Bedrohung durch Machtgebaren von weltlichen und kirchlichen Würdenträgern und der damit verbundenen Kriege. Nicht zuletzt die oft unverständlichen Enddeckungen der aus fernen Ländern heimkehrenden Seefahrer und der gerade florierenden Naturwissenschaften  führten dazu, dass die Menschen in Angst lebten und den Predigten der christlichen Priester mit ihren Heilsversprechen ein leichtes Opfer waren. Aber auch in der weltlichen Regierung hatte die Frau längst an Ansehen eingebüßt. Die bisher latent vorhandene Frauenverachtung gepaart mit Vorstellungen von Dämonen und Zauberei im Kontext der Angst und des Mangels, führten zur weiteren Diffamierung der Heilkundigen Frauen und ihren Kenntnissen. Misslang nun die Heilung eines Kranken durch die Behandlung einer Kräuterfrau, so wurde dies auf deren Zusammenarbeit mit dem Teufel in Verbindung gebracht. War man der Auffassung, dass bei den wirtschaftlichen, persönlichen oder klimatischen Schwierigkeiten, denen man ausgesetzt war, böse Mächte oder schlechte Wünsche mit im Spiel waren, suchten die Menschen nach Schuldigen. Die ehemals geschätzten Kräuterfrauen hatten Fähigkeiten, die das Handlungsspektrum einfacher Menschen überstieg und gerieten damit in den Fokus der Aufmerksamkeit. Die alte Heilkunst und Magie machte man zum erklärten Feind von Kirche und Staat, die Heilerinnen wurden denunziert, verfolgt und bekämpft.
Im 14. Jahrhundert erklärte man eine Frau, die sich anmaßte zu heilen ohne studiert zu haben, zur Hexe. Die Inquisition, ehemals gegen Kirchengegner und Splittergruppen wie die Katharer gerichtet, richtete sich nun gegen die Kräuterheilkundigen, Magie betreibenden oder dem alten Glauben immer noch angehörenden. Hexenverfolgung wurde zur Raserei, in der unzählige Menschen, zumeist Frauen, einen grausamen Tod fanden. Traditionelle Kräutermedizin übte man nur noch heimlich aus und jede, die diese praktizierte stand in Gefahr, entdeckt oder verraten zu werden und damit der Willkür  kirchlicher oder weltlicher Gerichtsbarkeit ausgesetzt zu werden. Das einst offen weitergegebene Wissen versteckte man daher in Märchen und Sagen, verlor so aber an Eindeutigkeit, es bedurfte einiges an Interpretation, um das darin verborgene Wissen zu erkennen.
Eine verheerend grassierende neue Seuche war die Syphilis, „Morbus Gallicus“ weil sie zuerst bei den aus Amerika zurückgekehrten französischen Matrosen auftrat. Kein Kraut konnte helfen also griff man auf Quecksilber zurück, einer Errungenschaft der arabischen Alchemie, gegen die Schmerzen wurde Opium verabreicht. Die syphilitischen Symptome konnten dadurch teilweise gebessert werden, so dass nahm die horrenden Nebenwirkungen in Kauf. Schwermetalle und mineralische Gifte wie Antimon und Vitriol fanden Einzug in die medizinische Behandlung, dies war wohl der  Anfang moderner chemischer Medizin. [2] Da die Krankheit auch bei flüchtigem sexuellem Kontakt übertragen werden konnte, entstand ein Misstrauen zwischen den Geschlechtern. Frauen galten als Überträgerinnen der Krankheit - ein Mann steckte sich bei der Frau an, nie umgekehrt.[3] Diese Sichtweise schlug sich auch im Bild der Heilkundigen Frauen nieder. Waren auf der einen Seite die Menschen prüder im Umgang miteinander, die Frauen mussten sich mehr in üppiger Kleidung verhüllen, unterstellte man andererseits den Hexen sexuellen Umgang mit dem Teufel. Es ist bezeichnend, dass die Foltermethoden häufig am nackten Frauenkörper vollzogen wurden, die äußerlichen Geschlechtsmerkmale waren für Verbrennungen und Verstümmelungen besonders beliebt. Die Inquisitoren aber auch die bildenden Künstler der Zeit wurden nicht müde, die Hexe und deren sündige Praktiken in aller Ausführlichkeit zu beschreiben. Auf mich wirkt das wie Pornographie der schlimmsten Art  – die Priester selbst hatten sich dem Zölibat verschrieben und konnten nun, in der detaillierten Beschreibung der Hexen und deren Praktiken im Umgang mit dem Teufel sowie in den Folterungen, ihre unterdrückte Lust auf perverse Weise ausleben.
Das Bild der Frau hatte sich nachhaltig verändert, sie galt mehr denn je als minderwertig, unwürdig, unwissend, als Sünde bringende Verführerin. Das Wissen der Kräuterfrauen war fast verloren, nur noch Bruchstücke davon konnten über die Zeit gerettet werden.




[1] (Bühring, 2011)
[2] (Storl, 1998)
[3] (Storl, 2010)